Der allmähliche Abstieg und das Auseinanderbrechen des osmanischen Reiches brachten in der zeitgenössischen Presse und Literatur der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg die polemische Personifikation des kranken Mannes am Bosporus hervor. In der Tat brach dieser kranke Mann unter der Last seiner Probleme letztlich zusammen und versank für eine gewisse Zeit von der europa-, nahost- und weltpolitischen Bühne. Nach einer langwierigen innenpolitischen Gesundheitskur und Entschlackung, der Errichtung einer säkularen türkischen Republik und einer vorsichtigen außenpolitischen Positionierung über Jahrzehnte hinweg begegnet uns heute ein ganz anderer Mann am Bosporus. Ist dieser Mann wieder gesund? Welches Potenzial hat er, um die aktuellen Probleme in der Nahostregion zu lösen? Wie verhält er sich gegenüber den anderen Akteuren? Ist er ein geschickter und selbstbewusster Taktiker, oder doch eher ein Zauderer, der klare Stellungnahmen nach außen hin scheut?
Die Türkei wird hierzulande in der öffentlichen Debatte oftmals unterschätzt. Trotz – oder gerade wegen – der in mehreren europäischen Ländern vorhandenen türkischen Einwanderergruppen ist mancherorts eine türkeifeindliche oder zumindest sehr distanzierte Haltung nicht von der Hand zu weisen. Ganz anders sieht die außenpolitische, strategische und geopolitische Fachdiskussion aus: Immer wieder wird hier eine stärkere Zusammenarbeit Europas und der USA mit der Türkei eingefordert. Ein gutes Beispiel liefert die aktuelle Ausgabe der Reihe “Europe in Dialogue” der Bertelsmann-Stiftung, die sich dem Thema “Europe, Turkey and the Mediterranean. Fostering Cooperation and Strengthening Relations” widmet. Der appellative Charakter dieser Überschrift ist nicht von der Hand zu weisen.
Um es bereits vorweg zu nehmen, ich bewerte eine stärkere Annäherung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik an die Türkei als ähnlich chancenreich. Auch wenn die Türen in Richtung europäische Integration für die Türkei momentan geschlossen sind und man nicht einmal sicher sein kann, ob die Türkei selbst diese Türschwelle überschreiten möchte, sollte eine herausgehobene Partnerschaft im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik wieder stärker ins Auge gefasst werden. Man könnte von einer wirtschaftlichen, demographischen, militärischen, außenpolitischen und geostrategischen Warte aus betrachtet stärker voneinander profitieren, insbesondere im Hinblick auf die aktuellen Problemstellungen in der arabischen Welt. Gewiss, die Türkei ist nicht das gelobte Land und hat selbst unter diversen inneren Problemen zu leiden, zu deren Lösung sie auch auf Mittel und Wege zurückgreift, die auf uns befremdlich wirken. Auf ihre herausragende Stellung zwischen Europa und Nahem Osten, zwischen NATO und Arabischer Welt, zwischen Islam und Säkularisation, zwischen Militär und Demokratie, zwischen West und Ost sowie Nord und Süd muss nichtsdestotrotz deutlich hingewiesen werden.
Die türkische Außenpolitik war lange Zeit darum bemüht, mit sämtlichen in der Nahostregion handelnden Akteuren freundschaftliche Verhältnisse aufrecht zu erhalten. In den letzten Jahren, im Zuge des westlichen Eingreifens in Afghanistan und im Irak, des Aufstrebens Irans und seines Atomprogramms, des Abkühlens der israelisch-türkischen Beziehungen und insbesondere der Umwälzungen des Arabischen Frühlings, wurden die Karten allerdings neu gemischt. Die Türkei muss ihre Position neu und deutlicher definieren, nicht zuletzt, seit die Kämpfe in Syrien die Türkei an ihren Außengrenzen direkt berührt haben. Geht man davon aus, dass das us-amerikanische und europäische Engagement in Afghanistan und im Irak seinen Höhepunkt bereits überschritten hat und dass gleichzeitig Ahmadinedschad in der arabischen Welt mehr und mehr isoliert wird, tut sich hier die entscheidende Nische für eine starke türkische Regionalpolitik auf. Im Gleichschritt mit dem saudischen Königshaus und Katar, die sich außenpolitisch ebenfalls äußerst aktiv präsentieren, könnten gemeinsam regionale Lösungsansätze, Hilfestellungen und Sicherheitsstrategien erörtert werden. Probleme wie in Syrien, im Libanon, in Gaza oder auf der Sinai-Halbinsel müssen angegangen werden, und zwar mit einer Vorreiterrolle der lokal angesehenen und integrierten Akteure, hat sich doch gezeigt, dass die europäischen und us-amerikanischen Bemühungen um einen Frieden im Nahen Osten stagnieren. Ferner könnte die Türkei auf normativer, staatstheoretischer Ebene im demokratischen Findungsprozess der nordafrikanischen Staaten als gutes Beispiel dienen. Die Stärke der sogenannten Muslimbrüderschaften nach mehreren demokratischen Wahlen in Nordafrika schürt in Europa die Ängste vor fundamentalistischen islamischen Gottesstaaten.
Die Kehrseite der Medaille einer starken, auf den Nahen Osten und die arabische Welt fokussierten Türkei liegt für uns Westeuropäer in der Gefahr, in den toten Winkel der türkischen und auch der saudi-arabischen Betrachtungsweise zu geraten. Die europäische Union ist momentan hinlänglich mit der Lösung innerer Probleme beschäftigt. Innere, vor allem wirtschaftliche Probleme, das hat die Geschichte beispielsweise im Zuge der Great Depression gelehrt, führen allzu oft zu außenpolitischer Lähmung, Renationalisierung und Isolationismus. Es ist nicht abzusehen, inwiefern die EU künftig überhaupt Attraktivität auf Partner außerhalb Europas ausüben kann. Dieser Gefahr gilt es entgegenzuwirken. Den Rahmen dazu bilden abseits der EU-Institutionen einerseits die Strukturen der NATO, in denen die Türkei bekanntlich fest eingebunden ist. Andererseits sind die verschiedenen EU-Programme der europäischen Nachbarschaftspolitik und der einzelstaatlichen, bilateralen Engagements der EU-Mitgliedstaaten zu nennen. Hier muss hingegen konstatiert werden, dass die europäische Nachbarschaftspolitik in vielen Fällen hinter ihren Möglichkeiten bleibt. Mehr strategischer Weitblick, neue wirtschaftliche und handelspolitische Kooperationen, Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Migration und nicht zuletzt technologische, ressourcen- und energiepolitische Programme mit der Türkei und weiterführend mit der Kaukasusregion sollten schleunigst erarbeitet und unterbreitet werden.
Es ist müßig zu zählen, wie oft im Zusammenhang mit dem arabischen Frühling das Wort “turning point” gefallen ist. Gerade dies zeichnet wohl eine Revolution in ihrer klassischen Bedeutung aus. Doch gerade für die Positionierung der Türkei in der Region bilden diese Wochen und Monate einen wahrhaftigen “turning point”. Ganz zu schweigen von den tausenden Menschen, die unter Bürgerkrieg, Flucht, Vertreibung, Hunger und Durst täglich zu leiden haben. Für Europa gilt es, diesen türkischen Wendepunkt zu unterstützen, eine Situation, in der die Menschenrechte wieder stärker geachtet werden mitzugestalten und umgekehrt für sich selbst ein Umdenken hinsichtlich der Strategien nachbarschaftlicher Zusammenarbeit zu etablieren.